Die Schöne und das Biest
Das Ju Jutsu hat zwei Gesichter, nennen wir sie „Die Schöne“ und „Das Biest“. Die Schöne ist die sportliche Seite, etwa perfekte Doppelschrittdrehungen in Verbindung mit Kipphandhebel oder Körperrückstoß, oder auch aufwendige Atemi-Wurf-Hebel-Kombinationen. Von Könnern gezeigt ist das stets eine Augenweide, im Ernstfall auf der Straße aber nur bedingt anwendbar. Das Biest ist die praktische Seite des Ju Jutsu, das kompromisslose Bekenntnis zur Selbstverteidigung. Kurze, harte, ohne viel Bewegungsaufwand ausgeführte Techniken, die auch in Stress-Situationen funktionieren – und vor allem wirken.
Das Biest war Mitte Mai zu Gast im Landesleistungszentrum (LLZ) des Hamburgischen Ju Jutsu Verbandes. Dorthin hatte nun schon zum dritten Mal der Bahrenfelder SV (BSV19) zu seinem Lehrgang „Aus der Praxis für die Praxis“ geladen. Wie in den Vorjahren stand als Referent Michael Richter (7. Dan JJ und u.a. Ausbilder bei der Polizei) wieder auf der Matte und gestaltete für die Ju Jutsuka – vom Weißgurt bis zum 6. Dan – einen ebenso abwechslungsreichen wie vergnüglichen Lehrgang. Mit gut 70 Teilnehmern war das LLZ auch komplett belegt.
Nach kurzem Aufwärmen am Partner wurde die Verteidigung gegen den beidseitigen Griff ins Revers trainiert. Michael betonte stets den Unterschied zwischen Partnerverhalten im Training oder in Prüfungen und einer echten SV-Situation sowie die Notwendigkeit, aufmerksam zu bleiben, um im Ernstfall mit der nötigen Attitüde (und Körperspannung) in den Konflikt zu gehen.
Also nach dem Griff ins Revers in Erwartung des folgenden Kopf- oder Kniestoßes eindrehen, ran an den gegnerischen Kopf, Griffsprengen, mit Ellenbogen und Knie nachsetzen. Simpel? Ja. Effektiv? Jup. Funktioniert das unter Stress? Höchstwahrscheinlich besser als Doppelschrittdrehung und Kipphandhebel…
Aufgelockert wurde das Techniktraining immer wieder durch teils ernste, teils mit Augenzwinkern vorgetragene Anekdoten und Hintergrundwissen, das sich Michael in mehr als vier Jahrzehnten Polizeiarbeit erworben hat. Wer weiß schon aus Erfahrung, dass der Strassenkampfklassiker „Tritt zwischen die Beine“ wirkungslos verpufft, falls der Gegner sich in einem Zustand drogenindizierter Schmerzunempfindlichkeit befindet? Also besser Kniestoß zum Oberschenkel oder Knie – das tut dem Gegner zwar auch nicht mehr weh, das Bein stellt aber trotzdem seine Funktion weitgehend ein. Und Achtung! Auf der anderen Seite immer den eigenen Schritt schützen, denn (erhobener Zeigefinger): „WIR haben schließlich keine Drogen genommen.“
„Aus der Praxis für die Praxis“ ging es mit der Verteidigung in der gegnerischen Mount weiter – auch hier wieder mit knackigen, einfachen Techniken: Gegner runterholen, kontrollieren und mittels Attacken auf Ohr, Auge oder Nase versuchen, in Oberlage zu gelangen.
Nach der Pause gab es einen ganz kleinen Einblick in Stockabwehr (mehr wäre aufgrund der Teilnehmerzahl im LLZ auch nicht möglich gewesen) und die Verteidigung in engen Räumen. Michael referierte über Eskalationsstufen und die Möglichkeiten, die physische Auseinandersetzung zu vermeiden, zeigte aber auch Alternativen, falls das mit der Gewaltlosigkeit nicht mehr so gut klappt.
Dann waren die vier Stunden schon um und man traf sich nach dem Duschen bei wunderbarem knalligem Sonnenschein im Innenhof des LLZ am Grill mit Blick auf die Elbe. Und wenn Michaels hervorragender Vortrag als Motivation nicht ausgereicht haben sollte, so hat man mit den vom BSV19 spendierten Freibieren und Würstchen noch ein bis zehn Gründe mehr, im nächsten Jahr wieder dabei zu sein, wenn es erneut heißt: „Aus der Praxis für die Praxis“.
HJJV-Medienteam/Text: Björn Timmermann mit Ralph Boeddeker, Fotos: Achim Liebsch